Montag, 11. November 2019

Vorbilder

Als ich (vor ca. hundert Jahren) ein Teenager war, fielen mir – speziell bei meiner Mutti- so manche Sachen auf, die ich damals belächelte oder nur mit einem Augenrollen kommentierte. Seien es Dinge die sie tat, Floskeln die sie benutzte, oder Angewohnheiten, die sie hatte. Manche „Schrulligkeiten“ von ihr, wurden gar zum Running-Gag zwischen mir und meinen Geschwistern.
Um nur ein wenig aus dem Nähkästchen zu plaudern, sei hier festgehalten, dass sie zum Beispiel am allerliebsten an einem Samstagmorgen, wenn unsere Lieblings-Kindersendungen im TV liefen, mit Lockenwicklern im Haar mit dem lautesten Staubsauger der Welt durchs Wohnzimmer jagte. Da das TV-Gerät mitten im Raum –ergo mitten im Weg- platziert war, durften wir das gesamte Putzmanöver über ihren Hintern bewundern. Auch die Zurufe meines Bruders „Mutti, das Büld is Orsch!“, (zu Deutsch „Mutti, wir können leider an deinem Hintern nicht vorbeischauen, und sehen den Bildschirm nicht“) hinderten Sie nicht an ihrem Eifer.
Als ich älter wurde und begonnen habe mit meinen Freundinnen um die Häuser zu ziehen, veränderte sich auch mein Kleidungsstil. Von Basicshirt, Jeanshose und Turnschuhe, folgte ein fliegender Wechsel zu Spaghettitop, Minirock und Stöckelschuhen. Das durfte keinen Samstagabend unbemerkt bleiben und meine unpopulärste Floskel von ihr folgte meinem Schuhgeklappere auf dem Fuße „Kind, wenn ich dich bloß anschaue, wird mir kalt!“ (Anm. sie wusste einfach nicht, wie „cool“ ich tatsächlich war, haha)
Aber das schlimmste – vor allem für mich und meine Schwester – war es, sich im Winter von ihr ankleiden zu lassen. Wenn ihr nämlich „so kalt war, dass sie uns nicht mal ansehen konnte“, neigte sie dazu, grässliche, statisch aufgeladene Strumpfhosen aus dem Kleiderschrank zu ziehen, um sie uns feste über den Nabel bis unter die Brust hochzuziehen, damit uns auch ja nicht kalt wurde. Dies versuchte ich ihr die längste Zeit meines auszureden. Aber willensstark wie meine Mutti nun mal ist, war ihr das schlicht und ergreifend egal.
Ein paar Jährchen und drei Kinder später, hetze ich samstagmorgens staubsaugend mitten ins TV-Bild quer durch das Wohnzimmer. Die Jogginghose raufgezogen bis knapp unter die Brust, brülle ich über den Lärm des Staubsaugers hinweg meinem Tochterkind entgegen, es solle seine Strümpfe hochziehen, denn „Wenn ich dich bloß anschaue, wird mir kalt!“. Die nassen Haare stehen mir bereits zu Berge, da ich die Lockenwickler nicht finde. Mein Spiegelbild starrt mir schockiert aus dem Bildschirm entgegen, während Sohnemann in meine Richtung blökt „Mutti, das Büld is Orsch!“.